Bundesverfassungsgericht kippt Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen
Die deutsche Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen ist verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar in Karlsruhe entschieden.
Berlin, 27.02.2014 — Mit einer knappen Mehrheit von fünf zu drei Stimmen hat das Bundesverfassungsgericht die Sperrklausel für verfassungswidrig erklärt. Die Karlsruher Richter sehen in der Sperrklausel einen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Wahlrechts- und Chancengleichheit der politischen Parteien.
Deutschland wird im neuen EU-Parlament mit 96 Abgeordneten vertreten sein. Durch den Wegfall der Drei-Prozent-Hürde ist damit zu rechnen, dass die bereits vertretenen Parteien CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke weniger Abgeordnete stellen werden. Das freut die kleineren Parteien, da sie dadurch eine größere Chance haben, bei der kommenden Wahl im Mai in das Europaparlament einzuziehen.
Bereits mit Urteil vom 09.11.2011 hatte das höchste deutsche Gericht die damals geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel bei den Europawahlen für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin beschloss der Bundestag im vergangenen Jahr eine Änderung des Europawahlgesetzes (EuWG). Dieses sieht nunmehr für die Wahl zum EU-Parlament eine Drei-Prozent-Sperrklausel vor, um eine Parteienzersplitterung zu verhindern.
Gegen diese Neuregelung hatten sich 19 kleinere Parteien, darunter die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die Freien Wähler und die Alternative für Deutschland (AfD), in einem Organstreitverfahren und einer Verfassungsbeschwerde gewandt.
Das Bundesverfassungsgericht sieht durch den Wegfall der Sperrklausel im deutschen Europawahlgesetz keine Gefahr für die Funktionsfähigkeit des EU-Parlaments. Die vom Gesetzgeber getätigten Voraussagen in Bezug auf die zukünftige Zusammensetzung des EU-Parlaments seien rein spekulativ und könnten den Eingriff in die Wahlrechts- und Chancengleichheit politischer Parteien nicht rechtfertigen. „Stattdessen stellt das Gericht selbst eine durchaus angreifbare Prognose auf, um die Verfassungswidrigkeit zu begründen“, kritisiert Dr. Günther Schulte, Mitglied der Hauptgeschäftsführung und Europaexperte des MITTELSTANDSVERBUNDES.
Verfassungsrichter Peter Müller: Ausgestaltung des Wahlrechts ist Sache des Gesetzgebers
Lesenswert ist das Sondervotum des Verfassungsrichters Peter Müller. Er ist der Auffassung, dass die Ausgestaltung des Wahlrechts Sache des Gesetzgebers ist. Wenn der Gesetzgeber – wie im vorliegenden Fall – eine Prognose aufstellt, unterliege diese einer nur eingeschränkten Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts. Dieses habe lediglich zu prüfen, ob die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums eingehalten wurden.
In keinem Fall dürfe das Bundesverfassungsgericht eine eigene Prognose an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen - wie es das Bundesverfassungsgericht nach Auffassung von Müller im vorliegenden Urteil getan hat. Der deutsche Gesetzgeber habe eine realistische Prognose zur Zusammensetzung des EU-Parlaments getroffen und diese auf plausible tatsächliche Umstände gestützt. Allein mit Blick auf Deutschland wäre die Zahl der im Europäischen Parlament vertretenen Parteien bei der Europawahl 2004 um neun und bei der Europawahl 2009 um sieben gestiegen. Dies ließe durchaus den Schluss zu, dass von einer weiteren Fragmentierung des EU-Parlaments bei einem Wegfall der Sperrklausel auszugehen ist.
Darüber hinaus greife die Betrachtung des Bundesverfassungsgerichts zu kurz: In allen EU-Mitgliedstaaten außer Spanien gebe es Sperrklauseln oder äquivalente Regelungen. Karlsruhe gehe also bei seiner Prognose in Bezug auf die Zusammensetzung des EU-Parlaments vom Fortbestand der Regelungen in anderen Mitgliedstaaten aus. "Das Bundesverfassungsgericht verlässt sich auf Regelungen in anderen Mitgliedstaaten, die es in Deutschland wahrscheinlich für verfassungswidrig erklären würde - eine Einschätzung, die man bei der zukünftigen Diskussion im Hinterkopf behalten sollte", sagt Schulte. "Auch für den MITTELSTANDSVERBUND bleibt das Urteil erstaunlich, da es rein spekulativ ist", erklärt der Europaexperte des Spitzenverbandes des kooperierenden Mittelstands. Eine Beeinträchtigung der parlamentarischen Arbeit sei durchaus denkbar.
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