Kinderbetreuungskosten eines alleinerziehenden Betriebsratsmitglieds: BAG weitet Rechtsprechung aus
Den Arbeitgeberkann eine Pflicht zur Kostenerstattung bei mehrtägiger auswärtiger Betriebsratstätigkeit treffen, so das Bundesarbeitsgericht in einer aktuellen Entscheidung.
Das Bundesarbeitsgericht befasst sich in der Entscheidung vom 23. Juni 2010 - 7 ABR 103/08-mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber Kosten der Kinderbetreuung übernehmen muss, wenn der alleinerziehende Arbeitnehmer einer auswärtigen Betriebsratstätigkeit nachgeht. Es weitet seine bisherige Rechtsprechung aus, wenn es feststellt, dass davon auch die Erstattung von Kinderbetreuungskosten in angemessener Höhe erfasst sein kann, wenn der Arbeitnehmer die Pflichtenkollision zwischen seinen gesetzlichen Betriebsratsaufgaben und der grundrechtlich normierten Pflicht zur Pflege, Erziehung und Beaufsichtigung von Kindern nicht lösen kann.
- Leitsatz des Gerichts
Ein alleinerziehendes Betriebsratsmitglied kann vom Arbeitgeber gemäß § 40 Abs. 1 BetrVG in angemessener Höhe die Erstattung der Kosten verlangen, die ihm durch die erforderliche Fremdbetreuung seines minderjährigen Kindes während einer mehrtägigen auswärtigen Betriebsratstätigkeit entstehen.
- Sachverhalt
Die in Teilzeit beschäftigte Antragstellerin war als Lagerarbeiterin bei der Arbeitgeberin beschäftigt. Sie war Vorsitzende des örtlichen Betriebsrats und Mitglied des Gesamtbetriebsrats. Im Juni und Juli 2005 nahm sie während der Dauer von insgesamt zehn Tagen an verschiedenen auswärtigen Sitzungen dieser Gremien teil. Ihre zwei 11 und 12 Jahre alten Kinder ließ die alleinerziehende Antragstellerin während dieser Zeit für 30 € pro Tag und Kind fremd betreuen. Ihre außerdem im Haushalt lebende volljährige Tochter hatte eine Betreuung der Geschwister abgelehnt. Die Antragstellerin hat Erstattung der Kosten in Höhe von 600€ von der Arbeitgeberin verlangt. Dies hat die Arbeitgeberin abgelehnt. Sie war der Ansicht, es sei Sache des Arbeitnehmers, sein Familien- und Privatleben so zu organisieren, dass er seinen Verpflichtungen in Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis und der Mitgliedschaft im Betriebsrat nachkommen könne. Außerdem hätte die volljährige Tochter die Geschwister beaufsichtigen können.
Das Arbeitsgericht hat dem Antrag stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat ihn abgewiesen.
- Entscheidungsgründe
Das Bundesarbeitsgericht hat den Antrag für begründet erklärt. Der Anspruch auf Erstattung der Kinderbetreuungskosten folge aus § 40 Abs. 1 BetrVG während der Tätigkeit für den Betriebsrat und aus § 51 Abs. 1 BetrVG während der Tätigkeit für den Gesamtbetriebsrat. Das Bundesarbeitsgericht weist darauf hin, dass dem einzelnen Betriebsratsmitglied wegen des Benachteiligungsverbots des § 78 Satz 2 BetrVG durch die Erfüllung seiner betriebsverfassungsrechtlichen Aufgaben keine wirtschaftlichen Nachteile entstehen dürften.
Voraussetzung für eine Erstattung von Kosten durch den Arbeitgeber sei, dass diese gerade durch die Betriebsratstätigkeit entstanden seien. Darunter fielen nicht alle Aufwendungen, die nur irgendwie im Zusammenhang mit der Betriebsratsmitgliedschaft stehen, auch nicht solche, die dem Bereich der persönlichen Lebensführung zuzuordnen seien. Ein Arbeitnehmer, der Betriebsratsaufgaben übernehme, müsse wissen, dass deren Erfüllung mit persönlichen Verpflichtungen kollidieren könne. Die Lösung eines solchen Konflikts obliege grundsätzlich nicht den Arbeitgeber. Allerdings weist das Gericht darauf hin, dass die Erfüllung von Betriebsratsaufgaben nicht im Belieben der einzelnen Betriebsratsmitglieder stehe. Diese seien hierzu viel mehr gesetzlich verpflichtet. Daher sei es dem Arbeitgeber verwehrt, auf § 25 Abs. 1 Satz 2 BetrVG zu verweisen, wonach sich das Betriebsratsmitglied im Falle einer Pflichtenkollision für verhindert erklären könne.
Vielmehr könne eine Kostenerstattungspflicht des Arbeitgebers bestehen, wenn die Erfüllung betriebsverfassungsrechtlicher Aufgaben mit der Pflicht eines Betriebsratsmitglieds zur Pflege und Betreuung minderjähriger Kinder kollidiere. Hier sei die grundlegende Wertentscheidung in Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz zu beachten. Das Elternrecht habe nicht nur Grundrechtcharakter, sondern zugleich eine die gesamte staatliche Ordnung und damit auch die Gerichte bindende Richtlinienfunktion. Die Vorschrift sei bei der Auslegung und Anwendung von § 40 Abs. 1 BetrVG zu beachten. Ein Betriebsratsmitglied könne daher vom Arbeitgeber die Erstattung von Mehraufwendungen für die Fremdbetreuung minderjähriger Kinder verlangen, wenn es anders die Pflichtkollision zwischen seinen gesetzlichen Betriebsratsaufgaben und der grundrechtlich in Artikel 6 Grundgesetz geregelten Pflicht zur Pflege, Erziehung und Beaufsichtigung der Kinder in zumutbarer Weise nicht lösen könne.
Eine Erstattung sei aber ausgeschlossen für Zeiten, in denen das Betriebsratsmitglied ohne die Erfüllung von Betriebsratsaufgaben zur Arbeitsleistung verpflichtet wäre. Das gelte auch während der Zeit berechtigterweise angeordneter Mehrarbeit. Die Fremdbetreuung sei vorliegend deshalb erforderlich gewesen, weil die Antragstellerin zur Erfüllung Ihrer Betriebsratsaufgaben jeweils mehrtägig über Nacht ortsabwesend gewesen sei und es ihr nicht möglich gewesen sei, abends nach Hause zurückzukehren, um die Kinder zu betreuen.
Nach dem Gebot vertrauensvoller Zusammenarbeit könne das Betriebsratsmitglied die Erstattung der Kosten nur in angemessener Höhe verlangen. Es müsse die Kosten daher auf das notwendige Maß beschränken. Eine kostenverursachende Fremdbetreuung sei beispielsweise dann nicht erforderlich, wenn ein Familienmitglied zur kostenlosen Betreuung bereit und in der Lage sei. Das sei vorliegend nicht der Fall gewesen. Denn unabhängig von der Stichhaltigkeit der Ablehnungsgründe der älteren Tochter habe diese keine gesetzliche Verpflichtung zur Betreuung ihrer jüngeren Geschwister getroffen.
- Folgen/Bewertung der Entscheidung
Die Entscheidung verkennt § 40 Abs. 1 BetrVG. Darüber hinaus bleibt unklar, inwieweit ein miterziehender Ehegatte die Betreuung der Kinder während der betriebsratsbedingten Abwesenheit des Partners übernehmen muss, wenn dieser ebenfalls - in der Regel nicht nur in Teilzeit - berufstätig und gegebenenfalls abwesend ist. Das Urteil stellt keinen Freibrief für die Erstattung jeglicher Betreuungskosten dar. Vielmehr muss das Betriebsratsmitglied alles tun, um Betreuungsfragen selbständig zu lösen. Nur in nicht anders abwendbaren Situationen kann es ausnahmsweise zu einer Kostenübernahme durch den Arbeitgeber kommen. Das Gericht führt richtigerweise aus, dass es grundsätzlich Sache des Arbeitnehmers ist, der sich in den Betriebsrat wählen lässt, Kollisionen mit persönlichen Verpflichtungen selbst zu lösen. Das Betriebsratsmitglied muss daher in solchen Fällen seine Verhinderung zur Teilnahme erklären können und sich entsprechend vertreten lassen.