Europa hat gewählt – so geht es weiter

Zwischen dem 6. und 9. Juni 2024 durften Bürgerinnen und Bürger aus 27 EU-Staaten über die Zusammensetzung des neuen EU-Parlaments abstimmen. Wer die Gewinner und Verlierer dieser Wahl sind, welche Mehrheiten nun rechnerisch möglich sind und wie es nach den Wahlen weitergeht, erfahren Sie in unserem EU-Wahl-Check.

Brüssel, 10.06.2024 – Es wird sich Einiges ändern im Europäischen Parlament, so viel sei bereits gesagt. Im Vorfeld der Wahlen wurde vielerorts ein Rechtsruck erwartet, der sich nun durch einen deutlichen Zuwachs an Sitzen der rechten Meloni-Fraktion Europäische Konservative Reformer (EKR) sowie der Europa-skeptischen Fraktion Identität und Demokratie (ID) manifestiert. Zu den Gewinnern kann sich auch die Europäische Volkspartei (EVP) zählen, die damit weiterhin mit Abstand die stärkste Europäische Fraktion bleiben wird.  

Abrechnung mit Regierungen in Deutschland und Frankreich  

Vor allem für die Bundesregierung sind die Wahlen als Stimmungsbarometer für die Bundestagswahlen im kommenden Jahr von enormer Bedeutung. Für die Ampel ein Menetekel: Während sich die Verluste für die Liberalen mit 0,2 % auf 5,2 % im Vergleich zu den Europawahlen 2019 noch in Grenzen halten, wurden vor allem die Grünen abgestraft. Mit 11,9 Prozent schnitt die Partei von Spitzenkandidatin Terry Reintke ganze 8,6 % schlechter ab als noch im Jahr 2019, als jeder fünfte deutsche Wahlberechtigte „grün“ wählte. Zwar halten sich die Verluste der Sozialdemokraten in Höhe von 1,9 % auf 13,9 % im Vergleich zu den Wahlen 2019 noch im Rahmen, allerdings bedeuteten diese damals bereits einen historischen Tiefpunkt für die SPD. Ein historisches Ergebnis auf Europaebene konnte ebenfalls die Alternative für Deutschland für sich verbuchen. Die Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron sahen sich im Vorfeld der Wahlen mit Vorwürfen der Korruption und Spionage konfrontiert, zudem sorgten Aussagen von Krah gar für einen Ausschluss der AfD aus der rechtsextremen ID-Fraktion (Update: Nach einem Votum der konstituierenden Sitzung im Europäischen Parlament wird Maximilian Krah nicht Teil der AfD-Delegation sein). Dennoch konnte die Partei einen Stimmzuwachs von fast 5 % auf 15,9 % auf sich vereinen und wird somit gemessen am Stimmanteil zur zweitstärksten Kraft in Deutschland. Neben dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW), das mit 6,2 % ein starkes Debüt auf europäischer Ebene feiern durfte, darf sich vor allem die Union mit 30 % als Siegerin der Europawahlen in Deutschland sehen.  

Dass die Wahlen in Europa mitunter dazu genutzt werden, mit der Regierung abzurechnen, haben auch die Wählerinnen und Wähler in Frankreich gezeigt. Im nach Einwohnerzahl zweitgrößten EU-Staat erhielt Marine Le Pens Rassemblement National mit 32 % mehr als doppelt so viele Stimmen wie die Liste der Regierungsparteien um Präsident Emmanuel Macron (15,2 %). Als innenpolitische Konsequenz dieser Blamage kündigte Macron heute Neuwahlen der Abgeordneten der Nationalversammlung an, die bereits Ende dieses Monats starten sollen. Auch in der deutschen Opposition werden die Forderungen in Richtung des Bundeskanzlers Scholz lauter, im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen und somit möglicherweise die Bahn für Neuwahlen freizumachen.   

Fraktionen auf Europäischer Ebene – Mehrheitenfindung wird erschwert durch Rechtsruck  

Der Rechtsruck auf Europäischer Ebene wird vor allem verbucht durch den Zugewinn für die Meloni-Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR) von vier Sitzen auf insgesamt 73 Sitze im Parlament sowie für die rechtsextreme und europafeindliche Fraktion Identität und Demokratie (ID), die 58 Sitze im EU-Parlament erhalten wird. Dies bedeutet einen Zugewinn von neun Sitzen – trotz Ausschluss der AfD-Abgeordneten aus der Fraktion. Auch die Europäische Volkspartei kann einen starken Zuwachs von acht Sitzen verbuchen, womit sie nach der Allianz der Sozialdemokraten mit 139 Stimmen weiterhin mit Abstand stärkste Fraktion im EU-Parlament bleibt. Die Grünen und Liberalen auf europäischer Ebene mussten die größten Verluste hinnehmen. Nach der neuen Sitzverteilung schrumpft die Fraktion der europäischen Grünen um 19 Abgeordnete auf voraussichtlich 52, die Liberalen (Renew Europe) müssen sogar einen Verlust von 22 auf insgesamt 80 Abgeordnetensitze hinnehmen.  

Was bedeuten diese Ergebnisse nun für die Mehrheitsfindung im Parlament? Grundsätzlich gibt es im Europäischen Parlament keine Regierungskoalition – die Zusammenarbeit erfolgt auf informeller Ebene. Das Europäische Parlament ist jedoch im Gesetzgebungsprozess auf die Bildung einer absoluten Mehrheit (bei Grundsatzentscheidungen gar 2/3-Mehrheiten) angewiesen, für die 360 Abgeordnete benötigt werden. Aufgrund des fehlenden „Koalitionsvertrags“ und Fraktionszwangs werden in der Regel, ausgehend von einem Kompromiss zwischen EVP und S&D, Entscheidungen mit wechselnden Mehrheiten aus verschiedenen Fraktionen getroffen. Die verschiedenen Möglichkeiten der Zusammenarbeit sind:  

  • Zusammenarbeit zwischen EVP; S&D und Renew Europe (403 Abgeordnete): Diese Koalition wäre vermutlich die Wunschlösung der meisten EVP-Vertreter.  
  • Zusammenarbeit zwischen EVP; S&D und Grünen (375 Abgeordnete): Diese Zusammenarbeit war einer der maßgeblichen Treiber des europäischen „Green Deals“. Diese Mehrheit gestaltet sich durch die erhebliche Schwächung der Grünen-Fraktion allerdings als zunehmend fragil.  
  • Zusammenarbeit zwischen EVP; S&D und EKR (396 Abgeordnete): Kommissions-Chefin Ursula Von der Leyen zeigte in der jüngeren Vergangenheit des Öfteren Bereitschaft für eine Zusammenarbeit mit der EKR-Fraktion. Sollte es jedoch beim Moratorium der Sozialdemokraten bleiben, wird es diese zwischen S&D und EKR nicht geben.  
  • Zusammenarbeit zwischen EVP, EKR, Renew und Grünen (389 Abgeordnete): Die wohl einzige Möglichkeit einer Mehrheitsfindung ohne Beteiligung der Sozialdemokraten. Allerdings haben auch die Grünen bereits signalisiert, nicht mit der Meloni-Fraktion EKR zusammenzuarbeiten.  

Von der Leyen mit besten Chancen auf Kommissionspräsidentschaft  

Die Wahlen waren zudem ein entscheidender Wegweiser für die Wahl des neuen Kommissionspräsidenten. Nach dem Spitzenkandidatenprinzip hat die stärkste Fraktion des Parlaments grundsätzlich das Recht, den oder die Kommissionspräsident/in zu stellen. Der Europäische Rat, der den oder die Kandidat/in vorschlägt, zeigte jedoch in der Vergangenheit wenig Verständnis für das Prinzip – Manfred Weber stolperte 2019 hierüber, während Ursula von der Leyen in buchstäblich letzter Sekunde das Amt zugesprochen wurde. Das Parlament hat jedoch die Möglichkeit, die/den vorgeschlagenen Kandidat/in sowie jeden der vorgeschlagenen Kommissare mit qualifizierter Mehrheit (50 %) zu bestätigen. Das starke Wahlergebnis der EVP zeigte, dass viele EU-Bürgerinnen und -bürger den Kurs der aktuellen Kommissionschefin und EVP-Spitzenkandidatin zu unterstützen scheinen. Allerdings haben bereits einige Fraktionen (Renew Europe) signalisiert, aufgrund der bürokratielastigen Amtszeit Von der Leyens eine erneute Kandidatur nicht mittragen zu wollen. Auch im Europäischen Rat formierte sich zuletzt Widerstand gegen die Deutsche; Macron soll etwa unzufrieden sein mit ihrer Leistung, weshalb zuletzt Namen wie Thierry Breton (aktuell Kommissar für den Binnenmarkt) oder Charles Michel (Präsident des Europäischen Rates) kursierten. Trotzdem hat Von der Leyen weiterhin die besten Chancen unter allen Kandidaten auf eine erneute Amtszeit als Kommissionspräsidentin, einige EU-Staats- und Regierungschefs haben sich bereits hinter die in Brüssel geborene Deutsche gestellt. Die Wahl soll zwischen dem 16. und 19. September stattfinden.  

Wie geht es nun weiter?  

Bereits heute sollen die europäischen Staats- und Regierungschefs mit informellen Beratungen über die Verteilung der vier europäischen Spitzenämter beginnen. Hierzu gehören neben dem Amt des Kommissionspräsidenten unter anderem auch der Nachfolger von Charles Michel als Präsident des Europäischen Rates sowie der Posten des EU-Chefdiplomaten. Am 27. Juni ist beim ersten offiziellen Treffen des Europäischen Rates eine Entscheidung zu erwarten (in der auch die Ergebnisse der EU-Wahlen berücksichtigt werden), bevor am 16. Juli die konstituierende Sitzung des Europäischen Parlaments stattfindet. Nach der Wahl zum Amt des Kommissionspräsidenten Mitte September werden im Oktober und November die einzelnen Kommissare vom Europäischen Parlament angehört und bestätigt. Wenn am 1. Dezember der oder die neue Ratspräsident/in das Amt antritt, sollte alles für eine neue Amtszeit der Europäischen Gesetzgeber geregelt sein.  

Es bleibt abzuwarten, was bis dahin noch passiert – insbesondere die europäische Rechte könnte sich noch einer größeren Umstrukturierung unterziehen, von einer Wiederaufnahme der AfD in die ID-Fraktion, über die Gründung einer neuen Fraktion unter AfD-Beteiligung bis hin zu einer Formation eines einheitlichen rechten Blocks zwischen ID und EKR (Marine Le Pen, Rassemblement National, soll hierauf bereits spekulieren).   

Dr. Henning Bergmann, Hauptgeschäftsführer, DER MITTELSTANDSVERBUND, sieht den Ergebnissen mit Skepsis entgegen: „Europa hat gewählt. Das Ergebnis ist ein Warnsignal für alle Demokratinnen und Demokraten. Die europäischen Kräfte müssen jetzt mehr denn je zusammenstehen und sich für die Freiheit Europas einsetzen. Ein vereintes Europa bietet dem Mittelstand enorme Chancen, fördert Innovation und zieht hochqualifizierte Fachkräfte an. Diese Werte dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Wir müssen die Demokratie gerade für die nachfolgenden Generationen stärken, um uns extremen Kräften entgegenzustellen. Jede und jeder von uns ist gefragt, aktiv mitzuwirken und unsere Zukunft zu sichern. Wir sollten entschlossen daran arbeiten, die europäische Idee zu bewahren und weiterzuentwickeln. Hierzu gehört auch, die kritischen Stimmen zu beachten, die oftmals vor Überforderungen der Wirtschaft gewarnt haben. Auch wenn der europäische Gedanke unbestritten bleibt, müssen dennoch Anpassungen in den kommenden Jahren vorgenommen werden. Hierzu gehören insbesondere Rahmenbedingungen, die umsetzbar bleiben. Nur so können gerade mittelständische Unternehmen am europäischen Binnenmarkt teilhaben und sich im internationalen Wettbewerb behaupten.“  

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