Europawahl: Mehr Chance als Risiko
Die Ergebnisse der Wahl zum EU-Parlament stehen fest. In den Medien dominiert die Diskussion über die starken Zugewinne der euroskeptischen Parteien. Doch wie sieht deren Einfluss auf die EU-Politik in den nächsten fünf Jahren wirklich aus?
Brüssel, 30.05.2014 — Blickt man auf die Wahlergebnisse in graphischer Form, so scheinen die Unterschiede zur Europawahl 2009 gar nicht so gravierend. Die Christ- und Sozialdemokraten (EVP und SD) haben weiterhin die meisten Sitze im EU-Parlament. Die Liberalen (ALDE), Grünen (Grüne/EFA) und Linken (GUE/NGL) haben daneben vergleichsweise kleinere Anteile.
Schaut man genauer hin, so ergibt sich ein anderes Bild: Von den zukünftig 751 Europaabgeordneten wird die europäische Volkspartei (EVP), der CDU/CSU angehören, mit 213 Sitzen (28,4 Prozent) die voraussichtlich stärkste Fraktion sein. Damit verliert sie 61 Sitze gegenüber 2009. Die SD-Fraktion mit der SPD kommt derzeit auf 190 Mandate (25,3 Prozent) – ein leichter Verlust von sechs Plätzen.
Trotz des katastropalen Abschneidens der FDP in Deutschland folgt die ALDE-Fraktion mit 64 Abgeordneten (9,5 Prozent) und verliert damit 19 Sitze im Parlament. Die Grünen verlieren dagegen nur drei Sitze und liegen mit 53 Sitzen (7,1 Prozent) auf Platz vier. Die Europäischen Linken (GUE/NGL) kann mit 42 Abgeordneten (5,6 Prozent) sogar noch sieben Plätze gegenüber 2009 zulegen.
Die europaskeptische EFD-Fraktion gewann 38 Mandate (5,1 Prozent) und erlangt damit sieben Sitze mehr als 2009. Die konservative EKR-Fraktion (6,1 Prozent, 46 Mandate) verlor demgegenüber elf Sitze. Beide Fraktionen haben bislang keinen deutschen Abgeordneten.Neu hinzugekommen sind 64 (8,5 Prozent) fraktionslose Abgeordnete. Davon gibt es bereits 41 (5,5 Prozent), bei denen angenommen wird, dass sie auch keiner Fraktion beitreten werden.
Wie setzen sich also diese 64 Sitze zusammen?
- In Großbritannien liegt Nigel Farage von der europaskeptischen UKIP (27,5 Prozent, 23 Mandate) deutlich vor Labour (25,4 Prozent, 18 Mandate) und konservativen Tories (23,94 Prozent, 18 Mandate).
- Die rechtsradikale Front National hat in Frankreich 25 Prozent (22 Mandate) erhalten und liegt damit noch vor den Konservativen (21 Prozent, 18 Mandate) und Sozialisten (14,5 Prozent, 12 Mandate).
- In Italien konnte Beppe Grillos sogenannte "5-Sterne-Partei" nur halb so viele Stimmen (21,13 Prozent, 17 Mandate) wie die Sozialdemokraten (40,86 Prozent, 31 Mandate) auf sich vereinen. Die rechtspopulistische Lega Nord liegt mit 6,19 Prozent (fünf Mandate) lediglich auf Platz vier.
- In Griechenland sind die radikalen Linken (Syriza) stärkste Kraft (26,55 Prozent, sieben Mandate).
- In Österreich gewinnt die konservative Volkspartei ÖVP (27,3 Prozent, fünf Mandate) vor der sozialdemokratischen SPÖ (23,8 Prozent, fünf Mandate) und der freiheitlichen FPÖ (19,5 Prozent, vier Mandate).
- In Deutschland konnte die neugegründete Alternative für Deutschland (AfD) sieben Mandate erringen.
"Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Prognosen zu den Zugewinnen der Euroskeptiker vor der Wahl etwas zu hoch gegriffen waren", erklärt Tim Geier, Referatsleiter des Europabüros des MITTELSTANDSVERBUNDES in Brüssel. "Dennoch ist eine stark nationalistisch geprägte Bewegung in ganz Europa zu erkennen, die es zu beobachten gilt", ergänzt er.
MITTELSTANDSVERBUND sieht Chance zur besseren Zusammenarbeit
Schon in der letzten Legislaturperiode konnten die Weichen für wichtige Gesetzesvorhaben im Sinne des kooperierenden Mittelstandes gestellt werden. "Gegen den aktuellen europakritischen Trend fordert DER MITTELSTANDSVERBUND von den Parlamentariern an diese Arbeit anzuknüpfen und das Projekt Europa weiter voranzutreiben", erklärt der Hauptgeschäftsführer Dr. Ludwig Veltmann. Rechtliche und faktische Hürden müssten weiter abgebaut werden. "Um knappe Abstimmungen zu verhindern, werden die Fraktionen jetzt wohl enger zusammenarbeiten müssen", meint Veltmann. Der MITTELSTANDSVERBUND-Hauptgeschäftsführer sieht darin aber auch die Chance die Zusammenarbeit im EU-Parlament zu intensivieren.
Dass das geht, hat das EU-Parlament bereits zwei Tage nach seiner Wahl gezeigt: Am 27. Mai hat die Präsidentenkonferenz beschlossen, den Christdemokraten Jean-Claude Juncker in das Rennen um den Posten des nächsten Kommissionspräsidenten zu schicken. "Lähmende Personaldebatten und der Öffentlichkeit kaum vermittelbare Entscheidungen gießen gerade jetzt doch Öl auf den Mühlen derer, die sich der großartigen Idee Europas verschließen und sich mit Blick auf ihr jüngstes Wahlverhalten eher abzuwenden drohen", meint Veltmann. Die schnelle Entscheidung könne deswegen nur begrüßt werden. Sie diene nicht nur der Stärkung des demokratischen Verständnisses – die EU-Parlamentswahl wurde auf zwei Personen als deren potentielle Präsidenten fokussiert – "sie schafft auch rasch wieder den freien Blick auf die gerade für mittelständische Unternehmen europaweit zu regelnden Rahmenbedingungen", betont Veltmann.Was wird sich durch die Umverteilung der Sitze zugunsten der euroskeptischen Parteien verändern?
Zunächst muss abgewartet werden, ob sich die Euroskeptiker zu einer Fraktion zusammenschließen. "Durch die stark nationalistische Prägung, die viele dieser Parteien haben, scheinen Pläne einer 'rechten Fraktion' im EU-Parlament, wie sie etwa Marine Le Pen, die Vorsitzende der Front National, hegt, eher unwahrscheinlich", vermutet der Europa-Experte des Spitzenverbandes des kooperierenden Mittelstandes. Er geht davon aus, dass sich strategische Bündnisse zu einzelnen Gesetzesvorhaben formen werden.Die Programme der euroskeptischen Parteien unterscheiden sich zudem sehr voneinander. Während sich etwa die britische UKIP-Partei auf die Begrenzung der Freizügigkeit konzentriert, fordern die griechischen Linken ein Ende des durch die europäische Troika diktierten Sparkurses Das Wahlprogramm der AfD konzentriert sich dagegen auf finanzpolitische Fragen und den Euro. "Ob sich diese unterschiedlichen Ansätze in einer Fraktion vereinen lassen, lässt sich bezweifeln", so Geier.
Die Geschäftsordnung des EU-Parlaments stellt eine weitere Hürde zur Bildung einer Fraktion auf: Danach sind mindestens 25 Abgeordnete erforderlich, deren Abgeordnete aus wenigstens einem Viertel der Mitgliedsstaaten bestehen müssen. Fraktionen genießen gewisse Vorrechte im Parlament. Nur sie sind in der Konferenz der Präsidenten als Stimmberechtigte vertreten. Außerdem können nur sie die EU-Kommission zum Tätigwerden auffordern und im Plenum des Parlaments die Ablehnung eines Gesetzvorschlags der Kommission vorschlagen.
"Daneben muss aber auch die nationale Rolle der euroskeptischen Parteien betrachtet werden", betont Geier. Viele euroskeptische Parteien kämpften um die Vormachtstellung im eigenen Land. "Die Wahlergebnisse können jetzt genutzt werden, um die eigene Regierung unter Druck zu setzen", erklärt der MITTELSTANDSVERBUND-Referatsleiter. Ein Zuwachs der Euroskeptiker könne dann dazu führen, dass die nationalen Regierungen bei wichtigen Entscheidungen im Rat der EU "einknicken", um die eigene Vormachtstellung im eigenen Land nicht zu gefährden. So spreche die französische Regierung schon jetzt von einer Neuausrichtung ihrer Europapolitik.
Mehr Störfaktor als echte Gefahr
Im Tagesgeschäft dürften die Euroskeptiker aber eher ein Störfaktor als eine echte Gefahr für die europäische Integration werden. So stimmt das Parlament in den meisten Fällen mit einfacher Mehrheit ab. Nur selten muss eine Zweidrittel-Mehrheit mobilisiert werden. Dies ist etwa bei der Ablehnung der EU-Kommission und des europäischen Haushalts der Fall, wobei die Zustimmung der Euroskeptiker wahrscheinlich wäre."Es kommt jetzt darauf an, ob Christ- und Sozialdemokraten ihre grundsätzlich gute Zusammenarbeit fortsetzen", meint Geier. Beide Fraktionen hätten zusammen eine Mehrheit im EU-Parlament.
"Insgesamt sind die Ergebnisse nicht wirklich überraschend", sagt Geier. Auch wenn der starke Rechtsruck einen Schatten auf die Wahlen werfe, sieht der Spitzenverband der Mittelstandskooperationen keine Schwierigkeiten, mit dem Parlament weiter eng zusammen zu arbeiten.