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Letta-Bericht: Ein Vorschlag zur Vertiefung des Binnenmarktes

„The Time to act is now“ – mit diesen markigen Worten endet der lang erwartete Bericht von Enrico Letta. Der Bericht bietet ambitionierte Vorschläge für die Vertiefung des europäischen Binnenmarktes und wurde im Rahmen des zweitägigen Gipfels der europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel vorgestellt. Was dabei für den kooperierenden Mittelstand interessant ist, hat DER MITTELSTANDSVERBUND für Sie zusammengestellt.

Brüssel, 26.04.2024 – Es ist ein Bericht, der sich in der Tradition der Europäischen Integration sieht. 1989 stellte der nunmehr verstorbene Jacques Delors einen Bericht vor, der zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion führte. Nun soll knapp 35 Jahre später ein vom Europäischen Rat beauftragte Bericht des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta die Blaupause für eine Vertiefung des Binnenmarktes während der nächsten Amtszeit der Kommission darstellen.

Letta sieht die Europäische Union unter Zugzwang: Demografische Entwicklungen in den europäischen Gesellschaften sowie die Rückkehr von Machtpolitik in Form von Kriegen und Handelskonflikten würden ein schnelles und entschlossenes europäisches Handeln alternativlos machen – nur so könne die EU weiterhin eine weltpolitische Bedeutung haben. In sechs Kapiteln beschreibt der Letta-Bericht Maßnahmen zur Vertiefung der Europäischen Union: 

  • eine gerechte, grüne sowie digitale Transition
  • die Erweiterung der Europäischen Union
  • die Stärkung der europäischen Sicherheit.

Schaffung einer „Kapitalmarktunion 2.0“ 

Zur Erreichung der gesetzten Ziele brauche es vor allem eines: Geld. Der Bericht rechnet vor, dass allein 620 Mrd. € notwendig sind, um die angestrebten Ziele des Green Deals zu erreichen. Diese Investitionsbedarfe sollen durch die gezielte Nutzung des Privatkapitals europäischer Bürgerinnen und -Bürger einen entscheidenden Baustein zur Finanzierung europäischer Zukunftsvorhaben darstellen Derzeit sieht der Bericht jedoch in der Fragmentierung des europäischen Kapitalmarktsystems ein großes Hindernis für grenzüberschreitende Investitionsvorhaben. Die Schaffung einer Spar- und Investitionsunion soll hier Abhilfe schaffen und nicht nur dafür sorgen, dass durch die Bündelung der Mobilisierung privaten Kapitals das Geld auf dem europäischen Markt bleibt, sondern auch ein Kapitalfluss aus Drittstaaten entsteht.

Forderung einer fünften Grundfreiheit für Forschung

Eine Kernforderung des Berichts stellt zudem die Einführung einer fünften europäischen Grundfreiheit dar. An die Seite des freien Verkehrs von Waren, Personen, Kapital sowie Dienstleistungen soll dem Plan nach eine weitere Freiheit zur Förderung der Forschung, Bildung und Innovation gestellt werden. Hintergrund ist der fragmentierte Rechtsrahmen im Binnenmarkt, der die EU in Bereichen wie KI, Halbleiter und Quanten-Computing längst hinter andere Märkte wie China oder die USA zurückfallen lässt.

Einführung eines „European Code of Business Law“

27 Mitgliedstaaten, 27 unterschiedliche Rechtssysteme für Unternehmen. Dies identifiziert der Letta-Report als eine der Hauptgründe, warum Unternehmen nicht das volle Potenzial des europäischen Binnenmarktes ausschöpfen würden. Hinzu komme, dass die divergierenden nationalen Umsetzungen der vielen europäischen Verbraucherschutzrichtlinien den Absatz und die Niederlassung in anderen EU-Staaten erschwere. Der Lösungsvorschlag des Berichts lautet, ein 28. System anzubieten – den sogenannten „European Code of Business Law“. Von Regeln über die Unternehmensgründung ausgehend, soll dieses Unternehmensrecht sukzessive auf weitere Regeln aus den Bereichen E-Commerce-Recht, Arbeitsrecht und weitere Rechtsgebiete ausgeweitet werden.

Abbau von Handelshemmnissen

Auch im Dienstleistungssektor sieht der Bericht zudem Handlungsbedarf: So sei die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen, durch komplexe Genehmigungsverfahren, wirtschaftliche Bedarfstests und andere nationale Hemmnisse erschwert. Speziell der Einzelhandel werde durch nationale Eintrittshürden daran gehindert, neue Märkte zu erschließen und somit vom Recht der Dienstleistungsverkehrs- sowie Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. Aus diesem Grund regt der Bericht eine Änderung der Strategie an, um die Integration des Dienstleistungssektors voranzubringen: Die klare Identifizierung spezifischer Marktzugangsbarrieren sowie einer sektorspezifischen Erarbeitung von Policy-Maßnahmen sollen das bisher bei Gesetzesinitiativen vorherrschende Gießkannenprinzip ablösen und so gezielte Verbesserungen für Unternehmen herbeiführen.

Hieran anknüpfend, werden im Bericht auch sogenannte Territorial Supply Constraints als Gefahr für den Binnenmarkt identifiziert. Hierzu gehört zum Beispiel die unlautere Praktik vonseiten der Hersteller, Unternehmen den Zugang zu Markenprodukten nur im Vertriebsland zu ermöglichen und somit höhere Margen zu verwirklichen. Diese schlagen sich im Endpreis nieder, weshalb hierdurch neben dem Vertrieb auch der Verbraucher geschädigt werde. Aus diesem Grund schlägt der Bericht vor, ein standardisiertes, formelles Verfahren für grenzüberschreitende Fälle der Wettbewerbsverzerrung einzuführen und darüber hinaus legislativ gegen nationale Maßnahmen der Einschränkung des freien Handels im Binnenmarkt vorzugehen.

Überregulierung bekämpfen und Verstöße sanktionieren

Nicht zuletzt erkennt auch Letta die große Last der Regulierungen an, die einem attraktiven Wirtschaftsstandort in Europa entgegensteht und Unternehmen aus Drittstaaten einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. So erhöhe die große Anzahl überlappender Regulierungen die Rechtsunsicherheit und Compliance-Kosten bei den Unternehmen. Aus diesem Grund fordert der Bericht eine Vereinfachung des regulatorischen Rechtsrahmens in unterschiedlichen Stufen des Gesetzgebungsprozess. Hierzu gehört beispielsweise der Vorschlag des Dynamic Impact Assessment-Mechanismus (DIA), mit dessen Hilfe die wirtschaftlichen Folgen von Änderungen im Gesetzgebungsprozess schnell ermittelt werden sollen.  

Zentral ist der Vorschlag Lettas, im europäischen Gesetzgebungsprozess künftig verstärkt auf das Instrument der unmittelbar geltenden Verordnung, statt auf Richtlinien zurückzugreifen. Gerade die nationale Umsetzung von Richtlinien habe in der Vergangenheit zu unterschiedlichen Regeln in den Mitgliedstaaten und somit zu einer weiteren Fragmentierung des Europäischen Binnenmarkts geführt. Auch soll hierdurch die gängige Praxis der Staaten verhindert werden, in der nationalen Umsetzung europäischer Gesetze über den ursprünglich vorgesehenen Regelungsrahmen hinauszugehen (“gold plating”).

Ebenso sollen „Entschlackungsprogramme“ zur Identifizierung und Beseitigung redundanter und obsoleter Regulierungen initiiert werden. Hinzu sieht der Bericht Potenzial in der Kodifizierung bestehender Rechtsvorschriften in den Bereichen Umwelt, Digitalisierung, Verbraucherschutz und Finanzen, um die Berichtspflichten zu vereinfachen und vereinheitlichen. Im gleichen Zuge sollen auch Berichts- und Befolgungspflichten der Regulierungen neu bewertet werden, da auch hier Redundanzen einen gewaltigen Mehraufwand in der Verwaltung bedeuten.

Einschätzung

Der Bericht konzentriert sich auf viele Punkte, die auch DER MITTELSTANDSVERBUND als wesentlich für die zukünftige Ausrichtung der europäischen Politik identifiziert hat: Gerade die Schaffung eines barrierefreien Binnenmarktes ist für viele Verbundgruppen entscheidend in der Ausweitung des eigenen Tätigkeitsbereichs. Die Konzentration auf eine weitere Vereinheitlichung der bestehenden Regularien und ein entschiedenes Vorgehen gegen territoriale Lieferbeschränkungen wurden von vielen Verbundgruppen in der jüngsten Konjunkturumfrage des MITTELSTANDSVERBUNDES als besonders wichtige Punkte identifiziert.

Das Thema Bürokratieabbau ist im Grunde so alt wie die Europäische Union selbst. Angesichts der aktuellen Aufgaben, die sich aus dem Anspruch einer nachhaltigen Wirtschaft ergeben, ist es jedoch entscheidend, dass sich die Unternehmen auf den Umbau ihrer Geschäftsmodelle konzentrieren können, anstatt unnötige Berichtspflichten erfüllen zu müssen. 

Viele der vorgestellten Ansätze stehen im ausschließlichen Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Ein Blick auf die Ergebnisse des Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs zeigt jedoch, dass viele der Vorschläge tragfähig sind. Sie riefen aus diesem Grund einen „Deal for Competitiveness“ aus, welcher die meisten Punkte des Berichts beinhaltet. Insgesamt stellt der Letta-Bericht einen brauchbaren Fahrplan für die kommende Legislatur der EU dar. Gerade die Frage des Abbaus bürokratischer Lasten wird jedoch ein Streitpunkt sein, auf den DER MITTELSTANDSVERBUND mit konkreten Vorschlägen reagieren wird.

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Tim Geier | Geschäftsführer Büro Brüssel | DER MITTELSTANDSVERBUND
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